Hayo der Wolf
Kaum jemand auf dem Marktplatz widmete sich noch seinen Geschäften. Die Nachricht von dem drohenden Angriff auf die Stadt hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Die einen waren in Gespräche vertieft, andere rafften bereits ihr Hab und Gut zusammen, um sich schnellst möglich aus dem Staub zu machen. Mitten in dem Gewimmel entdeckte Hayo Anna. Sie wurden von den drei Gebrüdern Rabe bedrängt und geschuppst. Anna klammerte eine Mohrrübe, die ihr die Jungen offensichtlich streitig machen wollten, mit aller Kraft gegen ihre Brust. Tränen standen ihr in den Augen. Das zarte Geschöpft hatte keine Möglichkeit, sich der drei Halunken zu erwehren.
„Lass ab von ihr, du Bauernlümmel oder ich werde dich und deine Mannen lehren, was es heißt, ein unschuldiges Fräulein zu bedrängen.“ Hayo zog sein Schwert aus dem Gürtel, griff es mit beiden Händen und dreht sich mit einem eleganten Ausfallschritt in Angriffsposition. Sein Blick ruhte fest auf Dirk. In seinen Augen war so viel Verachtung, wie Erinnerungen an die Schmerzen, die ihm dieser Bastard in all den Jahren zugefügt hatte. Jetzt war genug. Jetzt wurde abgerechnet. Umso besser, dass die schöne Anna, an die er, seitdem er sie das erste Mal gesehen hatte, sein Herz verloren hatte, miterleben durfte, dass er ihrer Zuneigung würdig war.
Das sah Dirk offensichtlich ganz anders. „Hä?“ Bist du von Sinnen? Ich bin Zwölf du Pimpf. Und wenn Du hier nicht sofort verschwindest, ramme ich dich ungespitzt in Boden oder werfe dich den Schweinen zum Fraß vor.“
Nein, diesmal nicht. Diesmal würde er sich nicht von diesem Gossenbarbaren durch die Gassen jagen lassen, wie ein Wolf die Lämmer durch den Wald. Heute war er der Wolf. Genau, das Wappen eines Wolfes würde seinen Schild zieren, nachdem er die Prinzessin aus den Klauen der Tyrannen befreit, sicher in ihr Heim geleitet und man ihn zum Ritter geschlagen hatte. So sehr Hayo es sich auch wünschte, durch seine tapferen Gedanken allein würde sich die drei Kerle, die allesamt mindestens zwei Köpfe größer waren als er selbst, nicht in die Flucht schlagen lassen. Jetzt konnte ihn nur noch ein Wunder retten. Manchmal war Angriff die beste Verteidigung. Er musste sich nur auf die magischen Kräfte seines Schwertes verlassen. Das würde schon klappen. Hoffte er. „Haltet ein, wenn euch euer Leben lieb ist. Mögt ihr mich den Schweinen zum Fraß vorwerfen, so wird euch der ganze Zorn meines Ritters treffen – des schwarzen Ritters aus dem Heer des Wallenstein.“ Er griff wieder in sein Hemd, holte den Brief heraus und streckte den Jungen das Siegel entgegen. „Erkennt ihr das?“
Die Drei sahen ihn fragend an. Dirk ließ von Anna ab, die mit zwei schnellen Schritten bei ihm war und sich an seinen rechten Arm klammerte. Seinen Waffenarm. Frauen. Wie verdammt nochmal sollte er so sein Schwert im Kampfe führen?
„Nun, erkennt ihr das?“, fragte er erneut mit fester Stimme, der nur seine Mutter angemerkt hätte, dass sich ein Ködel auf direktem Weg in seine Hose aufzumachen drohte.
„Nein? Ich wiederhole mich nur ungern. Muss ich euch das Siegel erst in die Stirn brennen, ehe ihr erkennt, dass ihr einen Knappen des schwarzen Ritters aus dem Heer des Wallenstein vor euch habt? Nur zu, ich brenne darauf.“ Er löste sich von Anna, machte einen Ausfallschritt nach vorn und erhob sein Schwert. Seltsamerweise hörte er Fanfaren in seinen Ohren klingen.
„Der ist doch total irre“, stammelte Dirk. Die drei jungen Männer wichen zurück, sahen sich für einen kurzen Moment verschreckt an und traten völlig verunsichert den Rückzug an.
Während Hayo ihnen nachsah, ergriff Anna seine Hand und schaute ihn voller Bewunderung mit ihren blauen Augen an, die ihn stets an das Meer erinnerten, von dem sein Großvater ihm berichtet hatte. „Komm“, sagte er zu Anna. Lass uns auf den Eierturm steigen. Ich möchte Dir zeigen, wo ich die Schlachten schlagen werde, um deine Freiheit und Ehre zu verteidigen.
So zogen die beiden Hand in Hand los, auf in die Abenteuer, die das Leben für eine wunderschöne Prinzessin und einen tapferen Ritter jener Tage bereit hielt. Das magische Schwert hatte seine Wirkung nicht nur in der Schlacht bewiesen. Manchmal kann der Glaube an das Gute eben Berge versetzen.
Ende
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